Stilkunde – Historismus

Kunsthandel Helmrich, Stilkunde, verfasst am 29.11.2010

Typischer Gründerzeitstraßenzug in Chemnitz Im Zuge der Industrialisierung wuchs der Bedarf nach Wohnraum, es wurden ganze Stadtviertel auf die grüne Wiese gebaut. Noch heute gibt es in vielen mitteleuropäischen Städten eine große Zahl von Wohnbauten aus der Gründerzeit, die oftmals ganze Straßenzüge oder gar Stadtviertel umfassen.

Typisch für den Baustil der sogenannten Gründerzeitarchitektur ist die meist von privaten Wohnungsbaugesellschaften errichtete, etwa vier- bis sechsgeschossige Blockrandbebauung mit ihren reich dekorierten Fassaden. Die einzelnen Dekorationsformen lehnten sich an historische Stilformen an, weshalb die Architektur dieser Prägung zusammenfassend als Historismus bezeichnet wird und Stile wie die Neugotik, Neorenaissance und den Neobarock umfasst. Es entstanden nicht nur Villen und Palais für das reich gewordene (Groß-)Bürgertum, sondern vor allem auch Mietskasernen für die rasant wachsende Stadtbevölkerung.

Bedeutend in dieser Phase war auch die Integration neuer Technologien in Architektur und Design. Entscheidend war die Weiterentwicklung der Stahlerzeugung (Bessemer-Verfahren), die beispielsweise Stahlfachwerktürme ermöglichte. Der nur aus Stahl und Glas bestehende Crystal Palace auf dem Gelände der Londoner Weltausstellung von 1851 galt als revolutionär und wegweisend für spätere Jahrzehnte.

Auch die Innenarchitektur der Gründerzeit spielte mit den verschiedenen Elementen des Historismus. Die reich ausgestatteten Räume des gehobenen Bürgertums zeichneten sich aus durch die Aufnahme und Imitation älterer Kunststile und Dekors.

Gründerzeit in Österreich

Das neugotische Wiener RathausAuch in Österreich begann die Gründerzeit nach 1840 mit dem Beginn der Industrialisierung des Raums Wien sowie in Böhmen und Mähren. Meist wird die Märzrevolution als Ausgangspunkt genommen, deren wirtschaftliche Reformen im Unterschied zu den politischen Reformen im Allgemeinen nicht zurückgenommen wurden

Der Liberalismus erreichte in der Österreich-Ungarischen Monarchie in einer äußerst kurzen Periode von 1867 (Österreichisch-Ungarischer Ausgleich) bis in die frühen 1870er-Jahre seinen Höhepunkt.

Wien, die Haupt- und Residenzstadt von Kaiser Franz Joseph, wurde ab 1850 – nach der gescheiterten Märzrevolution – durch die Eingemeindung der Vorstädte und den Zuzug Hunderttausender, besonders aus Böhmen und Mähren, bis 1910 zur fünftgrößten Millionenstadt der Welt. Die Ringstraße wurde an Stelle der alten Stadtmauer gebaut, Wohnbau und -spekulation blühten auf. Das durch die gestiegene Bedeutung von Gewerbe und Handwerk wohlhabend und – gegenüber dem eher agrarwirtschaftlich abhängigen Adel und der mittellosen Arbeiterschaft – mächtig gewordene Bürgertum setzte sich mit Prachtbauten des Historismus Denkmäler. Im kleineren Umfang wurden auch in Graz ganze Stadtteile neu errichtet, wobei im Gegensatz zu Wien die Grazer Altstadt größtenteils erhalten blieb, da die rege Bautätigkeit vor allem außerhalb stattfand.